Hier können Sie die Andacht von Pfarrer Thoma auch als PDF herunterladen:
Liebe Gemeinde,
„sobald ich da oben auf dem Balken sitze, bin ich im Tunnel,“ sagte ein Skispringer einmal auf die Frage, wie es ihm geht, wenn er vom Sprungturm aus die Zuschauermassen sieht. „Dann bin ich im Tunnel“ höre ich aber derzeit auch in Gesprächen mit Menschen, die keine Profi-Sportler sind, sondern in diesen Zeiten versuchen, mit all den Widrigkeiten von Pandemie und alltäglichem Wahnsinn fertig zu werden. Die einen vor Überforderung des Leistbaren (z.B. in Familien), die anderen vor Einsamkeit (z.B. bei Senioren). ‚Irgendwie durchhalten‘ durch den Winter, um am Ende des Tunnels wieder ‚normal‘ leben zu können.
In diesen Moment des ‚Tunnels‘ schlägt dieser Satz Gottes, der Monatsspruch für Dezember, ein wie ein Blitz, der mich aufschrecken lässt. Sollte ich gerade nicht lieber ein wohlig-warmes Weihnachtswort hören, das mir Mut macht? Warum ein Auftrag, mich um den anderen zu kümmern; habe ich nicht genug mit mir selbst zu tun?
Es geht nicht um ein zusätzliches Du musst noch! Im Gegenteil: Es geht um ein alternatives Es gibt noch…! Der Vers hebt meinen Blick aus meinem Tunnel hin in die Weite. Er wendet meinen Blick von mir weg hin zum anderen. Das mag vielleicht absurd klingen, aber indem ich den anderen wahrnehme, nehme ich mich anders war, weil der Blickwechsel mich und meinen ‚Tunnel-Blick‘ verändert: Ich werde gezwungen, aus meinem Tunnel auszubrechen und die Weite zu sehen; das zu sehen, was auch Relevanz hat; zu sehen, dass es noch andere Wichtigkeiten gibt.
Der Blick zum anderen verändert den anderen in seiner Not – und er verändert mich. Ich werde beginnen, die Wichtigkeiten des anderen und meine miteinander ins Verhältnis zu setzen und zu sortieren. Was ist jetzt gerade wichtig – für mich und für den Anderen? Dieser Blick in die Weite wird mich neben den wirklichen Wichtigkeiten in meinem Tunnel auch manche sehen lassen, die nur scheinbar wichtig sind. Um dafür Manches in der Weite zu erblicken, was jetzt seine Zeit hat. Lassen und ‚gelassen werden‘: Was schwer wiegt, wird dann nicht mehr so schwer sein, weil ich es jemand anders leichter mache oder weil jemand anders es mir leichter macht. Im Miteinander ist die Last des Einzelnen nicht mehr so lästig (Gal 6,2).
Letztlich hat Gott an Weihnachten nichts Anderes getan: Gott hat sich nicht an das festgeklammert, was ‚Recht‘ wäre, sondern hat seinen Blick auf uns gelenkt, sich überwunden herabzusteigen, um bei den Menschen zu wohnen (Joh 1,14), damit alles ‚rechtens‘ wird: Dass sich die Gerechtigkeit in Jesus erfüllt (Mt 5,17), damit Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben (1. Kor 13,13)!
Und genau das bleibt – wenn ich mich von Gott aus meinem Tunnelblick herausführen lasse: Für andere und für mich selbst.
Pfarrer Michael Thoma